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Rundbrief August 2014

Jenseits der Schatten

Margarethe Randow-Tesch

Vor über zweitausend Jahren entwarf der griechische Philosoph Platon mit dem Höhlengleichnis ein beeindruckendes Bild von der Welt: eine Höhle, in der Schatten auf und ab tanzen, die von den Höhlenbewohnern für wahr gehalten (und als wahr verteidigt werden), während draußen vor der Höhle die Lebenden im Sonnenlicht vorübergehen. Die Lebenden, das sind im Gleichnis jene, die nicht bei den Schatten wohnen, sondern das gütige Licht der Wahrheit kennen.

Dieser Kontrast von Wahrheit und Illusion findet sich auch im Kurs wieder. Viele Stellen im Kurs nehmen auf die Höhle und ihre Schattenwirklichkeit Bezug, denn ganz offensichtlich haben wir uns in der illusionären Höhle des Ego eingerichtet und reagieren auf den Tanz der Schatten, als sei er die Wirklichkeit. Unter Schatten werden dabei alle Formen und Erscheinungen in der Welt verstanden, darunter auch unser Körper und unsere Psyche. Einige Schatten begeistern uns, anderen möchten wir entfliehen. Wieder andere möchten wir verbessern. Immer jedoch liegt die Hoffnung auf den Schatten, statt auf unserer Haltung zu den Schatten. »Es dauert eine Weile, bis sie [wir/die Gefangenen in der Höhle] verstehen, was Freiheit ist« (T-20.III. 9:2). Diese besteht darin, im Rahmen unserer jeweiligen Rollen und Umstände zu lernen, Schatten als Schatten zu erkennen. Schatten sind definitionsgemäß nichts. Sie wirken bedrohlich oder anziehend, weil sie als etwas erscheinen. Wäre das tief verstanden, würden sie uns nicht mehr binden. Die Geistesschulung des Kurses zielt auf die Entwicklung dieser Haltung ab, im Kurs Vergebung genannt. Immer wieder beharrlich geübt, wird sie uns schließlich erlauben, im Frieden zu bleiben, egal, wo wir sind, was wir entscheiden und was wir tun.

An einer Stelle, die gütig auf unsere Erfahrung der Traurigkeit oder Frustration eingeht, wenn Dinge im Äußeren einen für uns unerwünschten Verlauf nehmen, heißt es: »Alle Illusionen über dich …. scheinen eine Weile nach den Regeln, die du ihnen gabst, zu tanzen. Dann aber fallen sie und können sich nicht mehr erheben. Mein Kind, sie sind nur Spielzeug, so gräme dich nicht ihretwegen. Ihr Tanzen hat dich nie erfreut« (T-30.IV.4:3-7). Dieser sanfte Appell, in die Dinge in der Welt nichts hineinzutun, keine Heilserwartung an sie zu knüpfen und nicht überrascht zu sein, dass sie den zerstörerischen Regeln des Ego unterliegen, ist der heilende Balsam der Rechtgesinntheit auf unserer wunden und ängstlichen Kinderseele, die zwischen Wirklichkeit und Schattenwirklichkeit nicht sicher unterscheiden kann. An einer anderen Stelle, in der es um den Tod, den bedrohlichsten Schatten des Ego, geht, steht der Satz: »Gemacht vom Ego, fällt sein dunkler Schatten auf alle Lebewesen, weil das Ego der »Feind« des Lebens ist. Und dennoch kann ein Schatten nicht töten. Was ist ein Schatten für die Lebenden?« (T-19.IV-C.1:9-2:2).

Wer sind die Lebenden? Alle; aber Leben ist nicht vom Körper, sondern vom Geist. Wie im Märchen von Dornröschen reicht die Macht des Ego (der »bösen Fee« im Märchen) nicht so weit, um zu töten, aber immerhin so weit, um einen todesähnlichen Schlaf herbeizuführen. In diesem Schlaf – Platons Höhle, gemeinhin Alltag genannt – werden die Träume der Besonderheit, des Selbstangriffs, des Hasses und des Todes geträumt.

Im körperlichen Dasein drückt sich Leben symbolisch in der Geisteshaltung des Friedens aus. Nun hätten wir vermutlich gern die Adresse des Prinzen, der uns wachküsst. Wir sind es selbst! Nicht wir als individuelle Personen, die sich für nicht gut genug halten und einen verzweifelten Kampf gegen die eigenen Schatten kämpfen, nicht wir als Ego, das das Ego verurteilt.

Wenn wir einen Augenblick von dieser ganzen Aktivität ablassen, innehalten und still werden, werden wir von den sanften Händen der Vergebung berührt, die nur eine einzige Botschaft hat: »Kleines Kind, das Licht ist da« (T-29.IX.4:3). Nichts kann uns glücklicher machen als innerlich mit diesem milden Licht der Rechtgesinntheit in Kommunikation zu treten, im Kurs Heiliger Geist genannt, während wir durch unsere Begrenzungen und Irrtümer im Alltag gehen, durch die vielen tausend Schatten des Ego, ohne sie zu beschönigen, zu verurteilen und an ihnen zu verzweifeln.

Doch es gibt eine »Dornenhecke« anzuschauen oder vielmehr den Schatten einer Dornenhecke, und das ist der Wunsch nach Besonderheit, die Ursache aller Gefangenschaft. Der große Gelehrte und Mystiker Meister Eckhart aus dem 13. Jahrhundert sagte einen Satz, der heute so gültig ist wie damals: »Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind« (Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes Verl., S. 57).

Mit anderen Worten: Wir kreisen zu sehr um ein kleines Selbst, das »nicht die geringste Ähnlichkeit mit [uns] hat (T-31.V.2:2). Wir nehmen die Person, für die wir uns (und andere) halten, wichtig und ernst, und blicken zu selten über sie hinaus zu der Verzweiflung oder der Liebe des einen gespaltenen Geistes dahinter. Personen sind nur Schatten und Fieberthermometer. Warum sich an ihnen stoßen? Hier werden wir vom Ego in ein Rennen geschickt, das wir nicht gewinnen können. Im Kurs wird diese fehlerhafte Selbstdefinition mit einem kleinen Zwinkern als Held des Traums bezeichnet – eine Figur in einer Vorabendserie auf dem Glück, deren Abenteuer und Dramen nicht abreißen. Darin manifestiert sich die Anziehungskraft der Besonderheit. Wer sie unterschätzt oder mit ihr kämpft statt Humor für die ganze Menschelei zu entwickeln, gerät entweder in Selbstverurteilung oder endet in einer noch tieferen Verleugnung. Beides dient nicht der Befreiung, und beides führt nicht zu dem »glücklichen Lachen«, das uns der Kurs verheißt.

So werden wir im Kurs zu einer anderen Betrachtung der Welt geführt: nicht zu Perfektionismus, sondern zu einer Haltung der freundlichen Gelassenheit uns und anderen gegenüber inmitten aller Träume: »»Berühre irgendeinen von ihnen mit den sanften Händen der Vergebung und sieh, wie seine Ketten wegfallen, zusammen mit den deinen« (T-19.IV-C.1:9-2:5).

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